Canyoning ist das Eintauchen in Orte, die einem normal verborgen bleiben. Der gewöhnliche Betrachter lehnt sich über das Brückengeländer und schießt Fotos von dem beeindruckenden Kontrast aus dunklem Fels und weiß schäumendem Wasser, das durch seine Kraft Skulpturen aus dem Steinmassiv formt. Doch ahnt er, dass es sich hierbei eigentlich um Kathedralen aus poliertem Felsmonolithen handelt, in denen man Gehen, Rutschen und Springen kann?
Canyoning beinhaltet Risiken, die man selber aus seiner normalen Erfahrung nicht abschätzen kann. Denn was man erlebt, unterscheidet sich von seiner normalen Umgebung fast so, wie wenn man auf den Meeresgrund taucht. Deshalb braucht man spezielle Ausrüstung (Neoprenanzüge usw.) und Guides, die einen in diese Erlebniswelt mit hineinnehmen.
„Warum machst du CY?“, war eine Frage am ersten Abend auf dem Balkon unserer drei Maisonette-Ferienwohnungen in der Altstadt von Chiavenna. „Ich hab von Janning fürs CY Feuer gefangen“, war die Antwort von nicht nur einer Person. Janning ist nicht nur Betreiber vom Outdoorcenter Baumgarten, sondern selber leidenschaftlicher CY-Guide, der dabei jede Menge Spaß hat, v.a. wenn er es wie bei unserer Ausfahrt mit seinen zwei befreundeten Guides Luca und Ronaldo macht. So kommt der Glücksfall zustande, dass die Sektion Bad Reichenhall eine Spezialität aus dem Bergsport anbieten kann, die es in den meisten Sektionen nicht gibt. Das liegt nicht zuletzt auch an der grenznahen Lage von Bad Reichenhall, da CY in Deutschland als Risikosportart nur auf Privatgrundstücken erlaubt ist. Ja, ein gewisses Risiko ist im Bergsport immer mit dabei, v.a. wenn man die Gefahr nicht (er)kennt. So war es beim Einstiegsgespräch am ersten Abend auch ein mehrfach genanntes Ziel, dass am Ende alle wieder wohlbehalten nach Hause kommen. Achtsamkeit ist angebracht, aber man darf sich nicht reinsteigern und „Angst vor der Angst“ bekommen, wie Roberto uns Unerfahren(er)en während der Fahrt nach Italien zuspricht. (Unsere aktuelle Herausforderung war allerdings eher, dass es unter uns 16 Personen vier mit dem Namen „Max“ gab.) Ein anderes Mittel, um Angst vor eigentlich machbaren Sprüngen auszutreiben, war zu beobachten, wenn nicht von vorneherein ein Chicken-Trail mittels Abseilen eingerichtet wurde, sondern man das Springen einer ruppigen Rutsche gegenüberstellt. Denn „größere Angst treibt kleinere Angst aus“ und Janning klärt mit dem Brustton der Überzeugung auf: „Das kann man springen!“ Und wenn man Max (der mit dem Bulli) in der flexiblen Grundrissarchitektur des Canyons fragt, „Wo geht’s lang?“, dann weiß er stets den Weg: „Runter!“ und zeigt mit dem Finger zielbewusst auf den Boden.
Aber manchmal sind sich auch die Guides nicht sicher. In der Tour „Bodengo 2“, als nach dem Gewitter des Vortags der Wasserstand noch satt hoch war, meinte Luca: „Ja, bei solchen Bedingungen bin ich auch noch nicht gerutscht!“, worauf Maxi meinte: „Was machen wir dann hier?“ und sich wie die meisten lieber neben der „Klospülung“ abseilte. Nachdem Janning die Lage genauer erkundet hat, ist er, Luca und (als einziger Teilnehmer) Michi doch noch abgerutscht, indem sie sich von der Sogkraft des herabstürzenden Wasser erfassen ließen, um in das Becken herunterkatapultiert zu werden.
Für Max Bulli kam seine Grenzerfahrung bereits etwas weiter oben im Canyon. Janning schärfte jedem, der an der Reihe war, ein: „Rutschen – und dann so schnell wie möglich nach links schwimmen, um aus der Strömung rauszukommen!“ Alle sind gerutscht. Doch den nachfolgenden wurde es mulmig, als Max es erst beim dritten Mal schaffte, das ihm zugeworfene Seil zu ergreifen, damit er aus der Strömung an die linke Seite des Beckens gezogen würde. Wie Roberto, der als Guide zuerst gerutscht war, um das „Angelseil“ einzurichten, es geschafft hatte, doch noch gegen die Strömung anzukommen, ist ihm unerklärlich. Denn Roberto erging es wie den meisten, dass sie, bevor sie sich versahen, von der starken Strömung erfasst wurden und nach rechts geschoben wurden. Aber mit starken Schwimmbewegungen und unter Zuhilfenahme seiner Füßen, mit denen er sich entlang der Stirnseite das Beckens immer wieder abstieß, hatte Roberto sich wieder Meter um Meter zurückgekämpft, um zu seinem Rucksack mit Seil zu kommen, der zum Glück hängen geblieben war und nicht schon eine weitere Kaskade nach unten gespült wurde. Janning, der alles von oben der Rutsche beobachtet hatte, entschied sich, nachdem ihn die Rutsche als letztes ausgespuckt hatte, möglichst tief unter der Strömung an der Oberfläche (wo sie am stärksten ist) wegzutauchen, so dass er gleich nach links durchbrechen konnte.
Uns allen wurde bewusst, dass dieser Sport nicht nur extrem für den Köper ist (je nach Schwierigkeitsgrad, der sich durch den Wasserstand merklich ändert), sondern auch mental ein Konditionstraining darstellt. Wahrscheinlich ist es deshalb nicht zufällig, dass es in unserer Gruppe einige Psychologen gab und solche, die beruflich als Bewegungstherapeuten oder Erlebnispädagogen arbeiten. Ja, Grenzerfahrungen sind eine Möglichkeit, sich normalgewordene Dinge wieder neu bewusst zu machen oder Einstellungen neu aufzugleisen. Auch unsere drei Fragen, die als Tagesrückblick in unserer Gruppe gedient haben, hatten etwas Therapeutisches an sich: Wie ging‘s dir mit 1. der Wassertemperatur, 2. der Gruppe, 3. deiner Kraft?
Vier Tage CY in der Lombardei – was wurde geschafft? Als Appetizer die Tour „Bodengo 1″ bei Chiavenna im Gneis mit improvisierter Hageltour zu Fuß zurück zum Auto. Am nächsten Tag die Sonnentour „Pilotera“ sowie die sportliche Herausforderung „Bodengo 2″ mit viel Wasser. (Der geplante „Bodengo 3“ war bei dem hohen Wasserstand zu gefährlich – für manche „leider“, für manche „zum Glück“. J) Als Dessert am Sonntag hatten die Guides bei Lenno am Comer See die Tour „Perlana“ herausgesucht, weil sie im Kalkstein und mit Elementen eines Erlebnisbads (wie halboffene Röhrenrutschen und Tunnels) noch mal einen anderen Charakter hatte als die Touren bei Chiavenna. Dass sich die Heimfahrt durch den Abstecher um 1 Std. verlängert hat und wir erst um Mitternacht wieder in Bad Reichenhall waren, haben alle gerne in Kauf genommen, zumal die Fahrt landschaftlich sehr schön war und der Comer See für die CY-Pausierenden zum Baden ohne Neo einlud.
Zusammenfassend war es für mich ein „abwechslungsreicher Aktivurlaub“ mit
- Teamgeist (Hilfsbereitschaft und gegenseitiges Ermutigen), alle bringen sich auf unterschiedliche Weise ein – ob als Pasta-Koch, als (Hilfs)Guide, Frühaufsteher-Brötchenhohler oder Müslimacher oder Pfannen-Bialetti-Barista auf Induktionsherd oder Autofahrer oder, oder, oder,
- Abenteuer und sportliche Herausforderung ( insbesondere Bodengo 2),
- Naturgewalten (Wasserdruck und -oberflächenspannung [v.a. bei zweistelligen Sprunghöhen], Gewitter mit Hagel und natürlich die Erosionskraft durch Wasser, aber auch ein Felssturz, der vor ca. 5 Jahren passierte),
- leckeres Essen (z.B. Pizza Burata [bitte mit scharfem Messer] und Espresso Double Macchiato (für Roberto als Apparativ am Morgen und Absacker am Abend),
- gute Gespräche, bei denen man von anderen lernen und andere kennenlernen konnte,
- Schönheit der Natur (von Wasser poliertes Gestein im Stil vom Marmor, kristallklares Wasser mit Lichtspielen durch Blätterdächer und auf der Rückfahrt der Prozess einer Mondfinsternis).
Blaue Flecken und Verspannungen als Erinnerungssouvenir gehören beim CY wohl dazu, z.B. wenn man bei höheren Sprüngen nicht gerade (wie mir es passierte) oder zu steif ins Wasser eintaucht. Ja, wir haben an diesen vier Tagen gelernt, was es heißt, „keine Angst vor der Angst zu haben“, aber auch unsere Grenzen anzuerkennen und ggf. uns abzuseilen oder von einer Tour zu pausieren. Und nicht zuletzt habe ich erlebt, wie wir Schutzengel hatten. Als z.B. Roberto beim Sprung ins Wasser nicht ins kühle Nass eintauchte, sondern um 90 Grad auf die Felswand umgelenkt wurde, weil sich beim Absprung der Haken seines Abseilgeräts (der Zahn des sog. „Piranha“) in dem Endknoten eines Fixseils verfangen hatte, wurde er von unsichtbarer Hand gehalten, so dass er irgendwie keinen Bodycheck mit der Felswand machte, sondern sich unbeschadet abseilen konnte, nachdem der brandige Hilfsguide Max (der zum Glück noch nicht gesprungen war) ihm Seil gegeben hatte. Bei anderen war die Bewahrung vielleicht nicht so offensichtlich. Doch je mehr man weiß, desto mehr sieht man potentielle Gefahren und ist am Schluss dankbar, wenn es nur ein Seil war, an dem Luca noch mal (senkrecht!) hochklettern musste, weil sich der Karabiner beim Abziehen am Bohrhaken verklemmt hatte.
So fällt es mir am Ende der vier Tage einfach zu sagen: Danke, Team, für das Erleben von achtsamer und hilfsbereiter Gemeinschaft, Danke, Guides, für das verantwortungsbewusste Führen und Hineinversetzen in uns Unerfahren(er)e und Danke, Gott, für deine Schutzengel in den atemberaubenden Kathedralen aus poliertem Felsmonolithen!